Tàrogatò – das Rebelleninstrument aus Ungarn
Viele Dinge
geraten mit der Zeit in Vergessenheit. Nicht absichtlich, es passiert einfach.
Es geschieht, weil rund um uns so viel vorgeht und es so viel zu lesen, zu hören
und zu sehen gibt, dass wir kaum mehr nachkommen, uns tagtäglich mit den neuesten
Informationen zu füttern. Ja, da kann es wirklich vorkommen, dass man
einiges vergisst. Vielleicht ist es ein wichtiges Datum der Geschichte,
vielleicht ist es ein Kindheitserlebnis, das man sich damals schwor nie zu
vergessen, vielleicht ist es ein Name - oder aber ein Musikinstrument. Bei den
Musikinstrumenten würde es sicher einige geben, an die wir in unserem
ganzen Leben nicht einmal einen Gedanken verschwendet haben. Aber was ist mit
den Traditionsinstrumenten? Was ist zum Beispiel mit dem Rebelleninstrument der
Ungarn – dem Tàrogatò? Wahrscheinlich haben Sie
darüber einmal gehört, irgendwann von ihm gelesen, es kommt Ihnen
bekannt vor, aber zuordnen? Wenn Sie schon einmal davon gehört haben und
sich daran erinnern – Hut ab! Ich kannte es nicht, hatte noch nie davon
gehört und hatte keinen blassen Schimmer, was das sein sollte – ein
Tàrogatò. Ich war sozusagen ein richtiger Grünschnabel auf
diesem Gebiet. Und weil mich unbekannte Dinge neugierig machen, erzählte
mir Attila Nagy mehr darüber.
Vom Aussehen her
erinnert das Tàrogatò an eine Mischung zwischen Klarinette und
Oboe. Ursprünglich entwickelte es sich aus der der Türkischen Pfeife
oder Schalmei, die im 13. Jahrhundert aus Asien nach Europa kam. Als ich das
erste Mal ein Tàrogatò in die Hand nahm, war ich überrascht,
wie leicht dieses Instrument ist, da ich aufgrund des schwerfälligeren
Erscheinungsbildes auch ein dementsprechendes Gewicht erwartet hatte. Ich ließ
mir sagen, dass dies von der größeren Bohrung käme. Das bewirke
auch das große Klangvolumen, das für das Tàrogatò charakteristisch
ist. Während die Bohrung bei der Klarinette zylindrisch verläuft, ist
sie beim Tàrogatò konisch. Gespielt wird es wie alle Holzblasinstrumente mit einem
Rohrblatt, als Kopf wird ein Klarinettenmundstück verwendet, obwohl auch
bei den Tàrogatòs bei manchen Varianten nur das Oboenrohr als
Mundstück genommen wird. Genau gleich wie bei der Klarinette gibt es auch
bei den Tàrogatò verschiedene Größen.
Das Instrument wurde ursprünglich zum Blasen von „Mahnsignalen“ verwendet, und wenn man es hört, versteht man auch gleich warum. Obwohl es rein äußerlich an eine Klarinette erinnert, hat das Tàrogatò nichts von deren doch eher zurückhaltendem Klang. Das ungarische Traditionsinstrument hat ein unglaubliches Tonvolumen, etwas melancholisch, ergreifend, aber mit seinem ganz eigenen Klang auch irgendwie aufrührerisch bis aggressiv. Womit wir wieder bei dem „Rebelleninstrument“ wären. Denn diese Frage haben wir bislang noch nicht geklärt.
Ungarn hatte es in der Vergangenheit nicht leicht – es war ein Land, das immer wieder für seine Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen musste.
Ende
der Unabhängigkeit Mitte des 16. Jahrhunderts - die osmanischen Eroberungen beginnen.
Die Türken nehmen Ungarn unter ihre Herrschaft, wobei die noch nicht eroberten Teile
entweder unter habsburgische Herrschaft kommen (darunter
der Westen Oberungarns) oder von Ungarn getrennt und
als Fürstentum Siebenbürgen
unter osmanische Oberhoheit gestellt werden
1668 – Ungarn wird von den Habsburgern zurückerobert. Die Ungarn missbilligen die harte Herrschaft der Habsburger, sodass es von 1703 bis 1711 zum Kuruzenaufstand unter Fürst Franz II. Rákóczi kommt.
Wenn man diese zwei Ereignisse aus der langen Geschichte Ungarns als Beispiel herausnimmt, wundert es einen nicht, dass sich die Ungarn öfters gegen die fremden Herrscher auflehnten – und da kommt wieder das Tàrogatò ins Spiel. Denn dieses Instrument wurde, wie oben erwähnt, dazu verwendet, Mahnsignale zu geben, da die Töne eine große Reichweite haben. Stellen Sie sich vor – Sie sind ein (Krieger, Untergrundkämpfer), ein Auflehner gegen die gerade herrschende Macht in Ihrem Land und verstecken sich vor den feindlichen Truppen in den Sümpfen und Wäldern Ungarns. Da kommt eine gegnerische Einheit auf Sie zu und Sie sitzen ahnungslos da, nicht wissend, welche Gefahr Ihnen droht. Und dann hören Sie die Warnung: den sonoren Klang eines Tàrogatò, gespielt von einem aufrührerischen Dorfbewohner, obwohl das Instrument unter der fremden Herrschaft verboten wurde. Denn mit diesem Instrument ist zuviel ungarische Tradition und Heimatliebe verbunden und es erinnert an zu viele Rebellionen. Daher ließen die Habsburger und auch andere Fremdherrscher alle Tàrogatòs vernichten und ihre Besitzer wurden streng bestraft und manchmal sogar hingerichtet. Was die fremden Besetzer dabei nicht bedachten, war, dass sie damit ein Stück ungarisches Erbe und ein Symbol seiner Geschichte vernichteten, aber gerade dadurch das Tàrogatò zum Instrument der Rebellen werden ließen.
Seit Beginn des
18. Jahrhunderts ist das Tàrogatò daher mehr als ein
gewöhnliches Instrument, es ist zum Zeichen für die Freiheit Ungarns
geworden und trägt den Klang des Ràkòczi-Marsches,
der nach dem größten ungarischen Widerstandskämpfer benannt ist,
immer noch mit sich. Dennoch hat es lange gedauert, bis das Tàrogatò
langsam aus dem Untergrund hervor kam. Geholfen haben die unzähligen
Versuche, das Instrument wieder in die Gesellschaft einzuführen. So
verwendete es Richard Wagner bei der Uraufführung des
„Tristan“ statt des später üblichen Englischhorns,
Instrumentenbaumeister perfektionierten es und heute ist es sogar Pflicht, dass
jeder, der in Ungarn Klarinette studiert, auch das Tàrogatò
beherrschen muss.
Alte Tàrogatòs gibt es wegen der erwähnten „Vernichtungsaktionen“ der Fremdherrscher kaum mehr. Umso erfreulicher ist es, dass das älteste uns bekannte Instrument in Vorarlberg zu bewundern ist. Es ist im Besitz des Tàrogatò-Spielers Attila Nàgy und hat mit seinen 120 Jahren bereits ein stattliches Alter erreicht. Heute werden in Ungarn bei Instrumentenbaumeistern wie Attila Nàgy, aber auch bei Firmen wie Hammerschmidt Tàrogatòs erzeugt. Für ein neues Instrument muss man jedoch mit einem Neupreis von bis zu 2500 Euro rechnen. Es ist ein vielseitiges Instrument, mit dem man nicht nur ungarische Volkslieder spielt, sondern das sich auch für viele andere Bereiche der Musik – sei es Jazz, Klassik oder Folklore - sehr gut eignet. Für das Tàrogatò selbst gibt es nur sehr wenige Originalkompositionen, die leider nur selten gespielt werden. Denn auch sie waren, wie das Instrument, für lange Zeit in Vergessenheit geraten.
Wer sich gerne die Sammlung von Tàrogatòs bei Attila Nàgy genauer ansehen oder das Instrument bei einem Konzert erleben möchte, ist immer willkommen und bekommt persönlich, telefonisch oder per mail Auskunft über die nächsten Konzerte.
Katharina Mathis [Vorarlberger Blasmusik Zeitung]